Almosi-Stein

Entziffert: Die »unbekannte Kuschana-Schrift«

Kölner Linguisten lösen das Rätsel um ein 2000 Jahre altes Schriftsystem

Vieles von dem, was heute über das Kuschana-Reich und seine Einwohner bekannt ist, stammt aus chinesischen, griechischen oder römischen Quellen. Einen Teil der Schriftzeugnisse dieser zentralasiatischen Kultur konnte bislang niemand lesen, denn das Schriftsystem, in dem sie verfasst waren, war nicht entziffert. Den Kölner Linguisten Svenja Bonmann, Jakob Halfmann und Natalie Korobzow ist nun der Durchbruch gelungen: das Rätsel der unbekannten Kuschana-Schrift ist gelöst.

Ein mächtiges Reich, von Nomaden gegründet

Das Kuschana-Reich lag im Zentrum der antiken Welt zwischen dem Römischen Reich und China. Heute liegt der größte Teil des ehemaligen Reiches in Afghanistan, aber auch in Teilen Tadschikistans und Usbekistans sowie Pakistans, Nordindiens und des westlichen Chinas.

Das Kuschana-Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Kanischka I. (dem Großen).
Wikipedia.org, public domain: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=115482936

Kern des Reiches war Baktrien, das heißt die Ländereien und städtischen Siedlungen entlang des Mittellaufs des Flusses Oxus bzw. Amu Darya.

Ca. 500 v. Chr. eroberten die Perser das Gebiet, 200 Jahre später fiel Alexander der Große dort ein. Nach Alexanders Tod konnten die Herrscher des Graeco-Baktrischen Reichs dort für knapp 175 Jahre einen Außenposten griechischer Kultur etablieren, dessen hellenistisches Erbe noch lange nachwirkte.

Ungefähr zur Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. wurde Baktrien durch die Yuèzhī erobert. Die Yuèzhī waren eine nomadische Stammeskonföderation der zentralasiatischen Steppe. Ursprünglich lebten sie in einem Gebiet, das heute politisch zu China gehört (im sogenannten Gansu-Korridor), erlitten jedoch im frühen 2. Jahrhundert v. Chr. eine militärische Niederlage durch die sogenannten Xiōngnú. Die Yuèzhī flohen über Zwischenstationen nach Nordbaktrien, ließen sich dort nieder und einer ihrer Teilstämme, die Kuschana, gründete schließlich das Kuschana-Reich.

Die Kuschana entsandten Botschafter ins Sassaniden-Reich, ins Kaiserreich China und nach Rom. Damit gehörte ihr Staat zu den mächtigsten Reichen der antiken Welt. Unter Kaiser (oder Großkönig) Kanishka I. erreichte das Reich im 2. Jahrhundert n. Chr. den Höhepunkt seiner Macht. Der Herrscher errichtete eine Sommerresidenz im heutigen Bagram (Afghanistan) und eine Winterresidenz in der Hauptstadt Purushapura (Peschawar, Pakistan). Dort und an anderen Orten des Reichs entstanden riesige Bauwerke und bedeutende Kunstwerke. Durch den langanhaltenden Frieden der Kuschana-Epoche blühten auch Handwerk und Handel auf. Im frühen 3. Jahrhundert zerfiel das Kuschana-Reich und wurde unter anderem vom persischen Sassaniden-Reich erobert.

Eine kleine Schale und ein Seminar über mitteliranische Sprachen

Französische Forscher entdeckten bereits in den 1950er Jahren Zeugnisse der unbekannten Kuschana-Schrift. Seither gab es viele Entzifferungsversuche, doch bislang war keiner erfolgreich.

Svenja Bonmann, Jakob Halfmann und Natalie Korobzow beschäftigen sich seit Jahren mit der unbekannten Kuschana-Schrift. Den Ausschlag gab für Bonmann eine kleine Schale mit den Schriftzeichen, die sie vor zehn Jahren im Deutschen Bergbau-Museum in Bochum sah. Sofort waren ihr Ehrgeiz und ihre Neugier geweckt und der Wunsch und Wille gefasst, diese Schrift eines Tages lesen zu können. Bonmann war sich bewusst, dass sie erst die relevanten Sprachen der Zeit und Region lernen müsse, bevor sie einen ernsthaften Entzifferungsversuch unternehmen konnte. Mit Halfmann und Korobzow fand sie Mitstreiter, die ihre Leidenschaft teilten.

Im Video erzählen die Wissenschaftler*innen von ihrer Entdeckung.

Der konkrete Anlass zum Entzifferungsprojekt war ein Einführungskurs in die mitteliranischen Sprachen, den Bonmann im Sommersemester 2021 am Institut für Linguistik an der Universität zu Köln anbot. Halfmann, der diesen Kurs besuchte, kam auf die bislang unlesbare Schrift Baktriens zu sprechen. Schnell kamen die beiden überein, das Problem anzugehen – natürlich methodisch durchdacht. Bonmann schrieb zu dieser Zeit ihre Dissertation über alt- und mitteliranische Sprachen, Halfmann steuerte fundierte Kenntnisse moderner indoiranischer Sprachen bei. Mit Korobzow fanden sie eine versierte Expertin semitischer Schriften und Sprachen, die sich dem Projekt anschloss. Gemeinsam ergänzten sich die Schwerpunkte der drei Linguisten.

Vema Takhtu, König der Könige

Anhand von Fotografien von Inschriften auf Felswänden oder Steinbrocken sowie Schriftzeichen auf Schalen und Tontöpfen aus verschiedenen zentralasiatischen Ländern versuchte das Team, das Puzzle nach und nach zusammenzufügen.

So wurde es möglich, die wahrscheinliche Schreib- und Leserichtung, die Anzahl und Natur einzelner Schriftzeichen und Diakritika (Vokalzeichen) sowie den wahrscheinlichen Schrifttyp zu bestimmen. Den Schrifttyp identifizierten sie als eine sogenannte Abugida (bzw. ein Alphasyllabar indischen Typs), wobei ein Schriftzeichen für eine Silbe steht. Sie erstellten ein Zeicheninventar und suchten nach wiederkehrenden Sequenzen von Zeichen. Für die phonetische Zuordnung konkreter Lautwerte zu einzelnen Schriftzeichen nutzte die Gruppe dann bereits lesbare Paralleltexte in baktrischer Sprache als Ansatzpunkt – ähnlich, wie beispielsweise Jean-François Champollion vor genau 200 Jahren vorging, als er die ägyptischen Hieroglyphen mittels des Steins von Rosetta entzifferte.

Felsstück mit Schriftzeichen Felsstück mit Schriftzeichen

Schriftzeichen auf einem Fels von Dasht-i Nawur, Afghanistan (© Bild: Collège de France; Zeichnung: Natalie Korobzow)

2022 folgte ein Team von tadschikischen Archäologen dem Hinweis des ortsansässigen Geologen Khaitali Sanginov und entdeckte in der Almosi-Schlucht im Nordwesten Tadschikistans einen kurzen zweisprachigen Text (Bilingue), der in eine Felswand geritzt war. Einer von ihnen war der Archäologe Dr. Bobomullo Bobomulloev vom Institut für Geschichte, Archäologie und Ethnographie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Republik Tadschikistan, der den Fund dokumentierte und fotografierte. Dank dieser Fotos gelang in Köln der entscheidende Erfolg.

Neben der unbekannten Kuschana-Schrift enthält die zweisprachige Inschrift einen Abschnitt in der bereits bekannten baktrischen Sprache. Der baktrische Paralleltext enthält den Königsnamen Vema Takhtu (ca. 100 n. Chr.) und den Titel ‚König der Könige‘. Bonmann, Halfmann und Korobzow hatten die Lautung der Phrase ‚König der Könige‘ in verschiedenen möglicherweise zugrundeliegenden Sprachfamilien rekonstruiert (Tocharisch, Iranisch, Burushaski, Jenissejisch) und sich gleichzeitig überlegt, wie die jeweilige Lautsequenz geschrieben werden müsste – also mit wie vielen Zeichen insgesamt und in welcher Reihenfolge. Als sie Fotos des Neufundes aus Almosi erhielten, konnten sie deshalb sogleich den Namen und Titel in den entsprechenden Abschnitten der unbekannten Kuschana-Schrift ausfindig machen.

Schriftfragment
Das Schriftfragment bedeutet „König der Könige“ (© Bobomullo Bobomulloev, Collège de France, Natalie Korobzow)
Schriftfragment
Der Königsname „Vema Takhtu“ (© Bobomullo Bobomulloev, Collège de France, Natalie Korobzow)

Das ergab eine Kettenreaktion, und nach und nach konnten immer neue Zeichensequenzen gelesen werden. Aktuell können die Linguisten ca. 60 Prozent der Schriftzeichen lesen, am verbleibenden Rest arbeitet die Gruppe intensiv.

Eine 2000 Jahre alte mitteliranische Sprache kann wieder gelesen werden

Neben der tadschikischen Bilingue zogen sie auch eine in Afghanistan gefundene dreisprachige Inschrift (Trilingue) in Gandhari/Mittelindoarisch, der baktrischen Sprache und der unbekannten Kuschana-Schrift hinzu. So fanden sie heraus, dass die Kuschana-Schrift eine bislang völlig unbekannte mitteliranische Sprache festhält. Vermutlich nimmt die Sprache eine Mittelstellung in der Entwicklung zwischen dem Baktrischen und dem einst in Westchina gesprochenen sogenannten Khotansakischen ein. Es könnte sich dabei entweder um die Sprache der sesshaften Bevölkerung Nordbaktriens handeln (auf einem Teil des Staatsgebietes des heutigen Tadschikistans) oder um die Sprache einiger Nomadenvölker Innerasiens (der Yuèzhī), die ursprünglich im Nordwesten Chinas lebten. Für einen gewissen Zeitraum diente sie offenbar neben Baktrisch, Gandhari/Mittelindoarisch und Sanskrit als eine der offiziellen Sprachen des Kuschana-Reichs. Vorläufig nennen die drei Forscher die neu identifizierte iranische Sprache „eteo-tocharisch“.

Die Kölner Linguisten planen für die Zukunft in enger Zusammenarbeit mit tadschikischen Archäologen Forschungsreisen nach Zentralasien, da mit Neufunden weiterer Inschriften zu rechnen ist und vielversprechende potentielle Fundstätten bereits lokalisiert sind. Sie sind zuversichtlich, dass die Entzifferung zu einem besseren Verständnis der Sprach- und Kulturgeschichte Zentralasiens und des Kuschana-Reichs führen wird, ähnlich wie es die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen oder der Maya-Glyphen für unser Verständnis des alten Ägypten oder der Maya-Zivilisation getan haben.

Die Bilder zeigen Funde einer französischen Expedition nach Afghanistan im Jahr 1969 und eine Karte von bestätigten und vermuteten Fundorten weiterer Inschriften (© Fotos: Collège de France. Fonds Fussman – Afghanistan (cotation) / Karte: Jakob Halfmann)

Text:
Svenja Bonmann, Jakob Halfmann, Natalie Korobzow, Eva Schissler

Videos:
Adam Polczyk, Niclas Carl, Christoph Carle

Website Konzept, Technik, Gestaltung:
Anette Hartkopf


MINTegration

Der Titel des Projektes „MINTegration“ ist Programm: Es geht um die Integration jugendlicher Flüchtlinge verknüpft mit der Nachwuchsförderung in den MINT-Fächern. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Uni Köln wollen für die Gruppe der jugendlichen Flüchtlinge geeignetes Lehrmaterial für den MINT-Unterricht entwickeln und dieses gemeinsam mit ihnen erproben.

Es gibt in Deutschland zu wenig junge Leute, die die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) studieren. Die Absolventinnen und Absolventen dieser Fächer werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht. Das Projekt MINTegration setzt bei der Förderung der MINT-Fächer in den Schulen an. Die  im Projekt entwickelten Lehrmaterialien werden dann zum einen Lehrerinnen und Lehrern und Schulen zur Verfügung gestellt und zum anderen in den Schülerlaboren der Uni Köln regelmäßig zum Einsatz kommen. Die Schülerinnen und Schüler der Pilot-Schule gehen in die Vorbereitungsklassen des Schiller-Gymnasiums in Weyertal und sind zwischen 13 und 17 Jahre alt. Sie kommen aus Syrien, Irak, Somalia, Afghanistan.

Elias, 12-jähriger Schüler aus Syrien, pipettiert neugierig und erklärt ganz selbstverständlich: „Chemie war schon in Syrien mein Lieblingsfach. Jetzt muss ich zwar alles auf Deutsch machen, aber die Regeln der Chemie sind ja überall die gleichen.“

„Heute sind die Studenten unsere Lehrer für Biologie und Chemie. Ich bin gespannt, was wir machen werden. Ich hoffe, dass ich alles verstehen kann“, sagt Manar, 16-jähriges Mädchen aus dem Irak vorsichtig. Sie macht sich Sorgen, ob ihre Deutschkenntnisse ausreichen, um den Anweisungen der Studentinnen und Studenten zu folgen.

Den Projekttag ‚“Beeren“ hat Victoria Hollmann (Uni Köln und Mercator-Institut) gemeinsam mit den Studenten des Masterstudiengangs „Sonderpädagogik“ entwickelt. Sie achtet dabei besonders auf die sprachlichen Voraussetzungen der Flüchtlingskinder und -jugendlichen: „Je besser wir den Bogen von den biologischen Grundlagen zum Alltag der Schüler schlagen können, umso leichter ist es die Schüler zu motivieren und für biologische Themen zu begeistern. Durch das gemeinsame Erleben können sprachliche und fachliche Kompetenzen leichter erworben werden. So lassen sich Naturwissenschaften und Integration ideal miteinander verbinden.“

Ahmed, 13 Jahre als aus dem Irak, probiert das erste Mal Johannisbeeren. Und, wie schmeckt´s? „Sauer“, sagt er. „Aber auch süß. Ein bisschen wie Tomaten“. Das Geschmackserlebnis bringt Ahmed danach zu Papier. Konzentriert schreibt er die Wörter auf. Nele Knigge, eine Masterstudentin, die im Projekt mitarbeitet, hilft ihm, wenn er bei der Rechtschreibung zögert.

Zum Thema „Vitamin C“ geht der Masterstudent Mirko Trenz mit den Jugendlichen in den Modularen Modellgarten der Uni Köln, auch MoMo genannt (http://modellgarten-momo.uni-koeln.de/)

Die Kinder haben gelernt, den Vitamin C-Gehalt von Lebensmitteln zu bestimmen. Jana vergleicht hier den Teststreifen mit der Farbskala. Jana ist 11 Jahre alt und kam vor 2 Jahren mit ihren Eltern aus Syrien.

Mit Blaubeeren lassen sich vorzügliche Blaubeer-Muffins backen. Auch dabei lernen die Kinder Abläufe, Abmessen von Zutaten und neue Wörter. „Das Backen hat viel Spaß gemacht. Jetzt können wir auch zu Hause mal backen“, sind sich alle Schülerinnen und Schüler einig.

Jana und ihre Klassenkameraden Hussein (11) und Julian (12), beide aus dem Irak, essen experimentierfreudig jeder ein Stück Zitrone. Die Bildereihe bestätigt: Sauer macht lustig.

„Ich bin überrascht, wie gut ich mich mit den Schülern verständigen kann“, beschreibt Studentin Lena Schmidt, die im Rahmen einer Masterveranstaltung die Unterrichtsstunden mit ihren Kommilitonen/innen geplant hat, ihre Erfahrung. „Bei den Fachbegriffen sind sie zwar anfänglich noch gestolpert, aber dann hat auch das geklappt. Selbst die sprachliche Zusammenfassung war kein Problem. Unsere Vokabelliste war dabei auch sehr hilfreich.“

„Drei von sechszehn Schülerinnen und Schülern in der Klasse haben sich für ein naturwissenschaftliches Praktikum entschieden, z.B. in einer Apotheke. Das liegt über dem Durchschnitt und hängt aus meiner Sicht mit dem Projekt MINTegration zusammen“, sagt Marion Berkenhoff, Klassenlehrerin einer Vorbereitungsklasse am Schiller Gymnasium in Köln.

„Die jugendlichen Flüchtlinge in den Vorbereitungsklassen benötigen anderes Lehrmaterial und andere Ansprache“, erklärt Frau Schulz-Krause, Rektorin der Pilotschule Schiller-Gymnasiums den Bedarf auf der Seite von Schule und Lehrer/innen. Marion Berkenhoff ergänzt: „Für uns Lehrer in den Vorbereitungsklassen ist es leider noch schwierig den Kontakt zu den Eltern aufzubauen. Das wäre sicher ein nächster wichtiger Schritt für die Integration unserer Schüler.“

Einsatz digitaler Medien

Der Einsatz digitaler Medien in Lehr-Lern-Szenarien ist Gegenstand aktueller didaktischer Forschung. Prof. Banerji beschreibt den Beitrag der digitalen Medien im Projekt MINTegration: „Wir haben im Projekt MINTegration die Versuchsanleitung digitalisiert und u.a. mit Videos hinterlegt, um die Sprachbarriere dieser Schüler im Umgang mit naturwissenschaftlichen Fächern weiter abzubauen. Wir können so unseren Studierenden einen praxisbezogenen Zugang zu digitalen Medien und ein Lernerlebnis mit sofortiger Anwendung bieten. Die gewonnenen Daten lassen sich sehr gut wissenschaftlich für die Evaluation der Lehrmethodik verwerten.“

Beispiele für Vokabeln

Beispiele für Anleitungen

Das Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL) an der Universität zu Köln hat die Erfahrungen und Lehrmaterialien aus dem Pilotprojekt im Rahmen der Online-Plattform „digiLL_NRW“ bereits genutzt. Auf den diggiKurs können Lehramtsstudierende und Lehrkräfte zugreifen und sich online weiterbilden.


Text: Corinna Kielwein


Bild/Video: Corinna Kielwein & Janine Kloesges


Website Gestaltung: Corinna Kielwein