Das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) ist eines der meistaufgeführten Werke klassischer Musik überhaupt. Bei seiner Aufführung ist allerdings in den meisten Fällen gar nicht das alleinige Werk Mozarts zu hören, denn er hinterließ es unvollendet. Inmitten der Komposition dieser Totenmesse ereilte ihn der eigene Tod. Das Musikstück, das wir heute kennen, komponierte damals Mozarts Werkstattgehilfe Franz Xaver Süßmayr zu Ende. Immer, wenn groß »Mozart« auf dem Plakat und Programm zum Requiem steht, ist also gar nicht nur »Mozart drin«.

Der Komponist und Dirigent Michael Ostrzyga, Kölner Universitätsmusikdirektor und Leiter des Collegium musicum, hat nun einen neuen Ergänzungsversuch von Mozarts Requiem-Fragment vorgelegt.

Fakt und Fiktion: Die Geschichte des Requiems

Um Mozart – und besonders um das letzte Werk des musikalischen Genies – ranken sich allerlei Mythen und Legenden. Die Hollywood-Verfilmung »Amadeus« von Miloš Forman aus dem Jahr 1984 ist das wohl bekannteste Beispiel. Der Film verrührt altbekannte Narrative und ist voll von dramatischen Übertreibungen: Ein anonymer Auftraggeber sichert Mozart gute Bezahlung für die Komposition des Requiems zu. Von Krankheit geschwächt bittet er seinen neidischen Widersacher Antonio Salieri um Hilfe. Dieser plant jedoch im Geheimen, Mozart umzubringen und das Werk bei dessen Totenmesse dann als sein eigenes auszugeben. Mozart wird besessen davon, die Totenmesse für sich selbst noch zu Ende schreiben zu müssen – aber der Tod kommt ihm zuvor.

Derartige Fabulationen haben eine lange Geschichte. Forman hatte für seinen Film vom gleichnamigen Theaterstück Peter Shaffers abgekupfert. Der russische Komponist Nikolai Rimski-Korsakow hatte Salieri bereits 1898 in der Oper »Mozart und Salieri« als Antagonisten ins Spiel gebracht. Diese Oper wiederum basiert auf einem Versdrama des Dichters Alexander Puschkin von 1830. Beispiele wie diese zeigen die Faszination, die die Entstehungsgeschichte des Requiems im Laufe der Zeit auf kreative Köpfe ausübte.

Auch in der Malerei wurde Mozarts Tod romantisch verklärt. Noch auf dem Sterbebett soll er in diesem Gemälde Gesang aus dem Requiem gelauscht haben. (Henry Nelson O'Neil, Public domain, via Wikimedia Commons)

Tatsächlich verbreiteten sich einige Legenden – wie die der mutmaßlichen Vergiftung – schon binnen weniger Wochen nach Mozarts Tod durch Zeitungsberichte in Europa. Im 19. Jahrhundert taucht ein Brief Mozarts auf, der tiefe Einblicke ins Seelenleben des Schöpfers beim Schreiben des Requiems zu geben scheint. Der Brief erwies sich jedoch als Fälschung. Das »Original« davon ist inzwischen selbst verschollen.

Als die Noten des Requiems von Mozart/Süßmayr 1800 erstmals publiziert wurden, geschah dies genaugenommen auch als Fälschung, denn sie wurden als alleiniges Werk Mozarts deklariert. Noch heute fällt der Name Süßmayr in stiller Übereinkunft eher unter den Tisch, wenn von Mozarts Requiem die Rede ist.

Inzwischen konnte die Quellenforschung sicher trennen, was von Mozart geschrieben worden ist und was nicht. Um »Echtheitsfragen« wird jedoch nach wie vor gestritten. Vor allem, wenn es darum geht, wie viel Mozart in den fremden Handschriften stecken könnte.

Es waren viele Fäden, die Michael Ostrzyga entwirren musste. Während seiner Arbeiten holte er sich daher auch Rat und Einschätzungen von verschiedenen Mozart-Forscher:innen rund um den Globus ein, etwa zur Interpretation und Datierung der Quellen, zu Liturgie und Skizzen Mozarts.

Über Mozarts Fragmente und Skizzen, über seine Schaffensweise und sein Vorgehen beim Verschriftlichen von Musik weiß wohl niemand besser Bescheid als der Musikwissenschaftler und Mozartexperte Professor Dr. Ulrich Konrad von der Universität Würzburg.

Die Entstehungsgeschichte Teil 1: Vor Mozarts Tod

Was ist die wahre Geschichte des Requiems? Professor Dr. Ulrich Konrad trennt Fakt von Fiktion.

Die Entstehungsgeschichte Teil 2: Nach Mozarts Tod

Wie weit fortgeschritten war Mozarts Arbeit am Requiem bei seinem Tod, wer mischte mit bei der weiteren Komposition? Professor Dr. Ulrich Konrad klärt auf und gibt einen Einblick in Mozarts Werkstatt anhand einer der überlieferten Requiem-Skizzen.

Handwerk und Muse

Michael Ostrzygas Neukomplettierung des Requiems sollte sich über mehr als vier Jahre hinziehen. Was bewog ihn dazu, sich dieser Mammutaufgabe anzunehmen?

Michael Ostrzyga, Kölner Universitätsmusikdirektor und Leiter des Collegium musicum

Schon als Kind lernte Ostrzyga an der Orgel das Improvisieren und hantierte mit kompositorischen Bausteinen. Auch übte er sich schon im Schreiben von Musik – angelehnt an das, was er hörte. Seit Beginn seines Studiums des künstlerischen Tonsatzes an der Kölner Musikhochschule setzte er sich systematisch mit dem Nachschaffen von Musik auseinander.

Im Tonsatz-Studium durchforstete Ostrzyga Lehrschriften aus der jeweiligen Zeit und analysierte die Musik verschiedener Komponisten – darunter auch Mozart. Damals lernte er, Stil-Imitationen zu schreiben, also durch kreatives Nachschaffen unterschiedliche Tonsprachen genauer zu verstehen. So kann man, wie Ostrzyga sagt, auch auf die Fragen kommen, die verborgen bleiben können, wenn man lediglich betrachtet oder hört.

Bevor er loslegte, hatte er das Mozart-Requiem bereits mehrmals selbst aufgeführt. Dabei waren ihm in der von Süßmayr komplettierten Fassung einige kompositionstechnische Ungereimtheiten aufgefallen. Vieles war offenbar nicht so geraten, wie es der Meister selbst komponiert hätte. Das ist nicht verwunderlich, denn Süßmayr stand beim Ergänzen unter Zeitdruck – und er war nicht Mozart.

Für seine Ergänzung studierte Michael Ostrzyga die Forschungsliteratur, unternahm umfassende vergleichende Stil- und Quellen-Studien, beschäftigte sich mit Mozarts Schaffensprozess und wertete die historischen Hinzufügungen aus der Zeit unmittelbar nach Mozarts Tod aus. Doch er näherte sich seiner Aufgabe nicht rein akademisch an. Die Musik ist für ihn »so tief, dass man sie überhaupt nicht vermessen kann«. Daher war ihm nicht nur das Handwerkszeug wichtig, sondern auch etwas, das schwerer zu greifen ist: die »Seele« der Musik.

Mozarts Kunst – Eine Zeitkapsel

Michael Ostrzyga über Motivationen, Ziele und Momente des Zweifelns bei der Arbeit an Mozarts Requiem.

Musikalische Detektivarbeit – den richtigen Ton treffen

Michael Ostrzyga ist nicht der erste, der sich eine Überarbeitung des Requiems wagt. Bekannte Komponisten Richard Strauss und Benjamin Britten, die auch Dirigenten waren, hatten bereits Änderungen an Süßmayrs Ergänzung vorgenommen. Auch Franz Liszt hat Klavier-Transkriptionen zweier Requiem-Sätze geschrieben, wobei er eine Reihe von Tonhöhen änderte. Zwei heute unbekannte Komponisten hatten schon im frühen 19. Jahrhundert einen zusätzlichen Satz zum Requiem komponiert. Dieser Satz gehörte liturgisch nicht zum in der Kirche gesungen Requiem, sondern wurde erst im Anschluss am Grabe vorgetragen. Tatsächlich ist eine der Vertonungen eines solchen Libera me, jene von Ignaz Ritter von Seyfried , bei der Grablegung Beethovens gesungen worden, nachdem zuvor die Süßmayr-Ergänzung von Mozarts Requiem in der Kirche erklungen war.

Ausschnitt der letzten Seite des Requiems, möglicherweise der letzten Notenseite, die Mozart in seinem Leben beschriftet hat. Die rechte untere Ecke war in früherer Zeit noch vorhanden. Sie wurde wahrscheinlich 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel abgerissen und gestohlen.

Richtig zufrieden gegeben hatte sich die Musikwelt mit Süßmayrs Arbeit also nie. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich schon viele an der Aufgabe versucht, das Mozart-Requiem neu zu ergänzen – darunter Profis ebenso wie Amateure.

Ostrzyga kannte die bei Verlagen erschienenen Bearbeitungen und sah sich auch neuere Arbeiten genau an, bevor er seinen eigenen Versuch startete. Aber wäre ihm eine wirklich überzeugende Fassung untergekommen, hätte er vermutlich keine eigene Ergänzung erarbeitet. In den Begleittexten zu seiner Edition geht er genau auf Probleme früherer Fassungen aber auch stilistischer Einschätzungen im Forschungsdiskurs ein.

Mozarts Kunst – Musikalische Detektivarbeit

Mozarts Tonsprache und seine Kirchenmusik wandelten sich über die Zeit. Darüber hinaus hatten frühere Komponisten großen Einfluss auf das Requiem. Ostrzyga beschreibt, wie er in diese Strömungen eingetaucht ist und worauf es ihm ankam.

Den Ausführenden bleibt die Wahl

Michael Ostrzygas Requiem-Ergänzung wurde der Öffentlichkeit erstmals im Juli 2017 an der Harvard-Universität in den USA vorgestellt. Doch damit war seine Arbeit noch nicht abgeschlossen: Noch immer getrieben von Neugier – und auch noch nicht ganz überzeugt von seinen eigenen Ergebnissen – suchte er nach weiteren Hinweisen, hinterfragte seine Lösungen, verarbeitete Feedback und entwickelte seine Edition weiter.

Für wenige Sätze hat er schließlich zwei Varianten komponiert. Dirigent:innen können so zwischen Szenarien wählen, die sich gegenseitig aufgrund der Überlieferungslage nicht definitiv ausschließend lassen. Auch bei der Instrumentierung bietet er den Ausführenden für wenige Stellen aus seiner Sicht gleichermaßen naheliegende Optionen. Je nachdem, was ihrem Mozartbild entspricht, haben sie so einen gewissen Spielraum. »Das ist eine konsequente Folge der Geschichte dieser Musik, die aus der Feder eines einzigen Autors ja gar nicht existieren kann«, sagt Ostrzyga.

Im August 2019 präsentierten Chorwerk Ruhr und Concerto Köln unter Leitung von Florian Helgath Ostrzygas Vervollständigung beim renommierten Rheingau Musik Festival. Im Anschluss wurde sie auf CD eingespielt. Der Kölner Stadtanzeiger berichtete in einem großen Artikel. 2021 wurde diese CD als »Editorische Leistung des Jahres« für den Opus Klassik, einem bedeutenden deutschen Preis der Fach-Branche, nominiert. Im Juli 2022 erscheint die Notenausgabe beim traditionsreichen Musikverlag Bärenreiter mit umfangreichen Begleittexten.

Ostrzyga geht es, auch wenn er manche früher vorgestellte Lösung und Stileinschätzung kritisch hinterfragt, um einen konstruktiven Dialog. Er sieht seine Arbeit als Teil einer dynamischen Auseinandersetzung mit Mozarts Requiem, denn, wie er sagt, »was Mozart selbst geschrieben hätte, das werden wir nie wissen«.

Collegium musicum

Das Collegium musicum der Universität zu Köln gestaltet und repräsentiert unter der Leitung von Michael Ostrzyga das Musikleben der Universität zu Köln und bietet sowohl Studierenden und Angehörigen der Universität als auch externen Interessierten vielfältige Möglichkeiten, Musik zu erleben.

Die Ensembles umfassen vom großen Sinfonieorchester über kleine a cappella Besetzungen bis hin zu Jazzchor, Big Band und Kinderchor eine große Bandbreite. Das Programm reicht von den Bachschen Passionen bis hin zu Jazz-Standards, von Gesängen des Mittelalters bis zu Klängen des 21. Jahrhunderts, von der großen romantischen Sinfonie bis zum Liederabend.

Neue aktiv mitwirkende Musiker:innen in den Ensembles sind jederzeit ebenso willkommen wie neugierige Konzertbesucher:innen. Den aktuellen Bestimmungen gemäß ist eine Probenteilnahme im Moment nur vollständig geimpft oder genesen möglich (2G). Ein freiwilliger Selbsttest oder Bürgertest vor dem Probenbesuch wird dringend empfohlen.

Jedes Semester veranstaltet das Collegium musicum die UNIVERSITÄTSKONZERTE, eine abwechslungsreiche Konzertreihe, in deren Rahmen nicht nur die eigenen Ensembles auftreten, sondern auch eingeladene Künstler:innen und Ensembles als Gäste. Die Reihe wird zum Wintersemester 21/22 mit wenigen ausgewählten Terminen wieder starten. Ob die Konzerte wirklich mit Publikum stattfinden können, wird je nach aktueller Pandemie-Lage kurzfristig entschieden.

Im Sommersemester 2021 hat das Collegium musicum Stücke erarbeitet, die Eingang gefunden haben in ein online-Format zum Thema »Totentanz« (Videoclip), das am Totensonntag, 21. November 2021, Premiere hatte. Aktuelle Informationen über das Collegium musicum finden Sie hier .

Text:
Michael Ostrzyga,
Eva Schissler

Video:
Manoel Mahmd,
Adam Polczyk

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